IN DEM FOLGENDEN HINWEIS UND KOMMENTAR GEHT ES UM
CHANGENGLEICHHEIT UND DIE RATIFIZIERUNG DER UN-BEHINDERTENRECHTSKONVENTION (UN-BRK) DURCH DEUTSCHLAND.
Nach dem 9. Schulrechtsänderungsgesetz (SchulG) 2013 ist Schule der Ort für
Heranwachsende ohne und mit Behinderung. Stimmt das pädagogische
Verhältnis, durch das das Selbstwertgefühl/-bewusstsein Heranwachsender
stabil gehalten wird, durch das individuelle Fähigkeiten gestärkt, individuelle
Kompetenzen erfahrbar gemacht werden und intrinsische Motivation bewirkt
wird?
Mit dem folgenden Schreiben an die FDP- und SPD-Fraktion sowie an den
Landtag fordert der Historiker, Pädagoge und Theologe Dr. theol. Lutz Brade die Umsetzung des Verfassungsauftrags.
Zu: Antrag "Chancengleichheit für Kinder mit Lese-Rechtschreibstörung & Rechenschwäche" der Fraktionen von FDP und SPD an den Landtag Nordrhein-Westfalen, Drucksache 18/4357, 18. Wahlperiode, 16.05.2023 1. Die Erschwerung bis hin zur Verweigerung von Teilhabe für Menschen mit Behinderungen, die von Formen der Dyskalkulie und/oder Legasthenie betroffen sind. 2. Zu dem Antrag der Fraktionen der SPD und FDP zu "Chancengleichheit für Kinder mit Lese-Rechtschreibstörung & Rechenschwäche".
Zu 1: Seit Kriegsende, der Gründung der UNO 1945 mit der weltweiten Forderung nach einer Friedens- und Sicherheitsordnung durch die Staatengemeinschaft und der Ratifizierung der "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" (AEMR) 1948 mit ihren für jeden Menschen verbindlichen Merkmalen seiner Einmaligkeit, Gleichwertigkeit sowie Gleichberechtigung mit jedem anderen Menschen erhielt die Bundesrepublik Deutschland 1949 zusammen mit dem Grundgesetz ein Fundament für die Neugestaltung eines demokratischen Staatswesens mit dem Auftrag, für das
Wohlergehen jeder Bürgerin und jedes Bürgers zu sorgen.
Von dem Verfassungsauftrag der allgemeinen Fürsorge durch die Politikbetriebe und Behörden haben Menschen mit Behinderungen wenig gespürt. Sie blieben ausgegrenzt. Sie erlebten Teilhabe in der Gesellschaft, ein Kriterium des späteren Begriffs Inklusion, wenn sie z. B. in den 1970er Jahren Urlaub in Italien machen wollten und ohne Schwierigkeiten Quartiere fanden.
In Deutschland erlangten Menschen mit "sichtbaren" Behinderungen zu der Zeit durch öffentliche Aktionen Beachtung.
Von der Politik und den Behörden war die Chance verpasst worden, das von der UNO,
von der AEMR und in der deutschen Verfassung beschriebene Menschenbild für gesellschaftlich verbindlich und augenfällig zu etablieren. Eine Folge der Ungleichbehandlung nicht nur behinderter Heranwachsender kann an der hohen Zahl ihrer Ausgrenzung aus den öffentlichen und diesen vergleichbaren Schulsystemen festgemacht werden. Zehntausende Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene verlassen jährlich deutsche Schulen ohne einen Abschluss. Zu den Betroffenen gehören Heranwachsende mit "sichtbaren" und "unsichtbaren" Behinderungen. Zu den unsichtbaren Behinderungen werden Dyskalkulie und/oder Legasthenie gezählt.
Mit Dyskalkulie werden Formen von Rechenstörungen/-schwächen und mit Legasthenie Formen von Lese-Rechtschreibstörungen/-schwächen beschrieben, deren Ursachen diskutiert und deren Wirkungen bei Heranwachsenden im Schulalltag auftreten. Dyskalkulie und/oder Legasthenie werden als Teilleistungsstörungen bezeichnet.
Vor der Jahrtausendwende, etwa zeitgleich mit dem Aufbegehren der Menschen mit den sichtbaren Behinderungen in den 1970er Jahren, wurde gegen die Behandlung der von Legasthenie betroffenen Heranwachsenden durch die deutsche Politik und ihre Behörden protestiert.
Als Unterstützer-innen der ausgegrenzten Heranwachsenden formierten sich z. B. Eltern, einzelne Lehrer-innen, Personen der Heilberufe und Mitarbeiter-innen von Zentren zur Therapie der Legasthenie.
Durch wissenschaftliche Studien war seit 1951 bewiesen, dass Kinder mit Legasthenie durchschnittlich bis überdurchschnittlich begabt sind. In einzelnen Bundesländern waren Richtlinien für den Umgang mit von Legasthenie betroffenen Heranwachsenden erschienen. Im Kontext der Bewegung für Menschen mit Behinderungen von Legasthenie fanden mit zeitlicher Verzögerung heranwachsende mit dem Phänomen Rechenschwäche in der Gesellschaft Beachtung und erhielten von o. gen. Personen sowie Organisationen Unterstützung.
Erst 2003 werden in dem "Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 04. Dezember" Heranwachsende mit "besonderen Schwierigkeiten ... im Rechnen" ohne Angaben zur Umsetzung eines ihnen angemessenen Schulabschlusses erwähnt. Für den Umgang mit von Dyskalkulie und Legasthenie betroffenen Menschen werden das Gleichstellungsgebot in Artikel 3 Absatz 3 Grundgesetz 1994, das 9. Sozialgesetzbuch 2001 für Rehabilitation und Teilhabe und das Behindertengleichstellungsgesetz 2002 nicht berücksichtigt. Im Jahr 2006 ist das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz dazu gekommen. Seit dem Jahr 2009, dem Jahr der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) durch Deutschland, wurden von den o. gen. Protagonisten der von Dyskalkulie und/oder Legasthenie betroffenen Heranwachsenden vorrangig die schulische Inklusion, die Gleichbehandlung im gesamten Erziehungs-, Bildungs-, Ausbildungswesen und die gesellschaftliche Teilhabe forciert. Die inzwischen vorliegenden Studien über von Dyskalkulie betroffenen Heranwachsenden belegen, dass diesen wie den o. gen. mit von Legasthenie betroffenen Heranwachsenden durchschnittliche bis überdurchschnittliche Begabungen bescheinigt werden. Sie tragen mit dazu bei, dass die Bereitschaft zur Inklusion an einzelnen Schulen durch Lehrer-innen in Zusammenarbeit mit Eltern und teilweise mit Schulleitungen zugenommen haben. Durch eine veränderte Einstellung gegenüber Heranwachsenden, die von Dyskalkulie und/oder Legasthenie betroffen sind, finden diese mehr Zugang in Unternehmen und Betrieben. Vorbehalte an deutschen Hochschulen sind zurück gegangen.
Bis in die Gegenwart wird an deutschen öffentlichen und Schulen freier Träger die Meinung vertreten, dass Heranwachsende mit den gen. Teilleistungsstörungen als lern- und berufsunfähig einzustufen sind. Diese Einschätzung verhindert/erschwert Heranwachsenden eine schulische Sozialisation mit einem Schulabschluss und führt zu Ausgrenzung. Mit dieser werden die Aufgaben eines inklusiven Erziehungs- und Bildungswesens verfehlt.
Die von Dyskalkulie und/oder Legasthenie betroffenen Heranwachsenden erfahren Unverständnis, Vorurteile, Ablehnung und die Verhinderung von Teilhabe. Diskriminierung und Stigmatisierung ihrer Kinder bedeuten für Familien und ihre Angehörigen unvorstellbare und unrechtmäßige Belastungen und für ihre Kinder häufig Langzeitfolgen.
Legasthenie und/oder Dyskalkulie begegnen als zwei von vielfältigen Erscheinungen menschlichen Lebens. Sie sind bei einem Individuum als Besonderheiten einzuordnen. Diese erfordern Inklusion. Auch nach der Ratifizierung der UN-BRK durch Deutschland 2009 ist wenig zur Umsetzung von Inklusion geschehen, wie die wiederholte Ermahnung der UNO von 2023 zur Durchführung von Inklusion durch deutsche Behörden beweist.
Zu 2: An den "Landtag Nordrhein-Westfalen Drucksache 18/4357 16.05.2023" ging der "Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion der FDP Chancengleichheit für Kinder mit Lese-Rechtschreibstörungen & Rechenschwäche". Der Antrag ist unterteilt in "I. Ausgangslage" und "II. Beschlussfassung". Im 1. Teil des Antrags wird auf den aktuellen Erlass zur Lese-Rechtschreibstörung LRS" in NRW, den aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand zu Dyskalkulie und/oder Legasthenie und auf Aufgaben von Schulen und Lehrkräften zur Identifizierung und individuellen Förderung von Schülern/Schülerinnen mit LRS hingewiesen.
"Nachteilsausgleich und Notenschutz bei Klassenarbeiten" sollen gegeben sein. Für eine mit Kosten verbundene Förderung durch Eltern für ihre Kinder außerhalb der Schulen fehlen häufig die finanziellen Mittel, so dass keine Chancengleichheit besteht. Transparent werden die im aktuellen LRS-Erlass vorliegenden und unzulänglichen Maßnahmen gemacht. Eine weit verbreitete behördliche Untätigkeit für die von Dyskalkulie betroffenen Heranwachsenden wird festgestellt und ist ein Indiz zur Erklärung des hohen Anteils ausgegrenzter Schüler-innen. Für das ihnen jahrzehntelang zugefügte Unrecht gebührt ihnen Rehabilitierung. Ein Erlass zu "Dyskalkulie/Rechenstörung" fehlt in NRW.
Im 2. Teil werden vom Landtag zuerst Hinweise zur Situation der von den gen. Teilleistungs-störungen betroffenen Heranwachsenden gegeben wie Chancenungleichheit, Defizite bei ihrer Beratung, schulischer Unterstützung und therapeutischer Hilfe wegen des ihnen zugefügten Unrechts. Die Verpflichtung zur schulischen Fürsorge wurde nicht von staatlichen und ihnen vergleichbaren Erziehungs- und Bildungseinrichtungen gewährleistet. Transformation für eine inklusive Schule wird von Lehrer-innen, Eltern und teilweise in der Zusammenarbeit mit Schulleitungen getragen.
Dann folgen Forderungen an die Landesregierung. Schulische Inklusion ist an der UN-BRK orientiert, auf das gesamte Erziehungs- und Bildungswesen bezogen, beginnt in der Kindheit und dauert über die Schul-, die Ausbildungs- und Berufszeit bis zum Tod eines Menschen an. Für den Zeitraum inklusiver schulischer Bildung und Erziehung in NRW nach dem 9. Schulrechtsänderungsgesetz (SchulG) 2013 ist Schule der Ort für Heranwachsende ohne und mit Behinderung. Für von Dyskalkulie und/oder Legasthenie betroffene Heranwachsende muss das pädagogische Verhältnis stimmen, durch das das Selbstwertgefühl/-bewusstsein Heranwachsender stabil gehalten wird, durch das individuelle Fähigkeiten gestärkt, individuelle Kompetenzen erfahrbar gemacht werden und intrinsische Motivation bewirkt wird. Dieser Ansatz führt Schüler-innen mit den gen. Teilleistungsstörungen zu einem Schulabschluss, wenn sie an öffentlichen und diesen vergleichbaren Schulen inkludiert, ihnen die im SchulG von 2013 schulischen und außerschulischen Maßnahmen und die in dem Antrag erwähnten Forderungen zur Inklusion endlich zugestanden werden.
Bei der Neufassung von Dyskalkulie- und/oder Legasthenie-Erlassen müssen Eltern, Lehrer-innen, Vertreter der Heilberufe und weiterer Professionen mitentscheidend beteiligt werden.
Freundliche Grüße
Lutz Brade, Dr. theol., 11/2023
© Lutz Brade